Sucht bei Tieren

Von der "Biochemie der Ekstase" haben wir schon gehört. Dabei scheint es sich nicht einmal um ein ausschließlich menschliches Phänomen zu handeln.

Denn auch Tiere versuchen zuweilen, sich in seelische Verfassungen zu bringen, in denen sie sich vergessen können und ihre Grenzen nicht mehr spüren müssen.

Sehr beeindruckend ist das in einem Film dargestellt, in dem gezeigt wird, daß in Afrika zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr Tiere, die sonst natürliche Feinde sind (wie Löwen, Giraffen, Affen, Elefanten) zu einem großen Wasserloch pilgern, ohne sich anzugreifen.

An diesem Wasserloch fallen von den umliegenden Bäumen überreife Früchte, die gären und dann berauschende Wirkung haben (so ungefähr könnte auch bei uns die Alkoholproduktion einmal begonnen haben).

Und es wird in dem Film schon sehr eindrücklich gezeigt, wie Löwen und Gazellen friedlich nebeneinander hertorkeln oder ihren Rausch ausschlafen.

Besonders beeindruckend ist die Szene, in der eine torkelnde Giraffe in voller Länge umfällt.

Die Drogen also ein Friedensstifter zwischen den Arten? Nur solange sie wirkt.

Sobald der Rausch ausgeschlafen ist, machen sich Gazellen und Giraffen schleunigst aus dem Staub.

Dieses Phänomen des Tierrausches gibt es beileibe nicht nur in Afrika, sondern in allen Erdteilen:

In Nordamerika fressen Rinder und Pferde gern "Narrenkraut".

In Asien stimulieren und desorientieren sich Wasserbüffel mit Mohnkapseln für das Umfeld nicht ganz ungefährlich.

In Australien ernährt sich der Koala-Bär fast ausschließlich von Eukalyptus, was einen so starken Effekt zu haben scheint, daß das Tier fast ständig im Rausch lebt.
Deshalb gilt er den australischen Eingeborenen auch als "Drogenabhängiger".

In Finnland suchen Rentiere gelegentlich ihrer halluzinogenen Wirkung wegen Fliegenpilze.

Auch unsere Hauskatzen sind mitunter regelrecht wild auf die sogenannte "Katzenminze", die ebenfalls eine halluzinogene Wirkung hat.
Dann jagen sie imaginäre Schmetterlinge oder Fliegen.

Was man auch im Tierreich festgestellt hat:
Je stärker die Tiere unter Streß leben müssen (z. B. wenig Nahrung, Wasser, zu viele Feinde etc.), desto höher ist das Bedürfnis nach Suchtmitteln.

Affen fressen in Gefangenschaft gern Tabak, wenn sie in freier Wildbahn leben dagegen kaum.

Wenn man Katzen und Ratten verstärktem Streß aussetzt, trinken sie Alkohol (wohl zur Linderung der Angst).

Die Wirkung auf die Tiere ist nicht weit entfernt von dem, wie Suchtmittel auf Menschen wirken:

Sie isolieren sich voneinander, werden müde oder torkeln herum und vermeiden soziale und sensorische Stimulation.

Sie werden sozial unangemessen kampfeslustig und aggressiv.

Sie bilden in ihrer Herde mitunter süchtige Sub-Kulturen, die sich von der Herde absondern.

Sie benutzen die Suchtmittel, um Streß, Angst und Depressionen zu lindern.

Ratten essen gewöhnlich nur, um ihren Hunger zu stillen.
Wenn man allerdings an ihrem Schwanz eine Klammer befestigt, so werden sie durch diesen permanenten Reiz motiviert, weiterzufressen, auch wenn sie längst satt sind.

Der Psychologe Seymour Antelman von der University of Pittsburgh hat festgestellt,
daß ein solcher äußerer Reiz wie die Klammer am Rattenschwanz auch andere Verhaltensweisen motiviert, die ähnlich wie das zwanghafte Weiterfressen stereotype Handlungen sind.

So lecken die Ratten den Boden, nagen unablässig an etwas oder spielen Mutter für eine junge Ratte, egal ob sie selbst Weibchen oder Männchen sind.

Offensichtlich ist dieser ständige Zwick-Reiz am Schwanz für die Ratte ein Streß, der durch die Aufnahme einer anderen stereotypen Tätigkeit "überspielt" wird.

Und diese Hypothese läßt Antelman auch über die Bedeutung dieses Phänomens für die Streßforschung bei Menschen spekulieren: Er glaubt, daß Menschen, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen, solches Streß-Verhalten zeigen.

Wenn beispielsweise Menschen unter starkem Streß unaufhörlich essen, so ist dieses Verhalten ähnlich der "Schwanz-Zwick-Reaktion" der Ratte.

Es kann vermutet werden, daß Tiere und Menschen auf ein repetitives Verhalten ausweichen, um die interne Übertragung von Streß-Empfindungen zu blockieren.

Sie beschäftigen sich also mit etwas, was die Weiterleitung von Streß-Signalen verhindert.

Drei Mechanismen

Soweit unser Exkurs in das Tierreich.

Weshalb reagieren Tier und Mensch in der gleichen Weise?

Beide haben im Grunde drei Reaktionsmechanismen,
um auf schwierige Situationen und Konflikte zu reagieren:

1. Kampf/Angriff;
2. Flucht / Rückzug;
3. Erstarren/innere Emigration ("Kaninchen vor der Schlange").

Diese drei Mechanismen haben ihre Berechtigung und ihren physiologischen Sinn.

Und diese drei Mechanismen haben ihre Entsprechung in der Wirkweise der stoffgebundenen Suchtformen

1. Kampf/Angriffaufputschende Mittel;
2. Flucht/Rückzugdämpfende Mittel;
3. Erstarren/innere Emigration-halluzinogene Mittel.

Allerdings gibt es auch hier Mischformen.

Bei den stoffungebundenen Suchtformen ist die Zuordnung nicht so eindeutig,
aber grob kann man sagen, daß Arbeitssucht, Kleptomanie, Sex-Sucht, Bergsteigen, Joggen etc. eher dem Mechanismus Kampf/Angriff zugeordnet werden.

Essen, Lieben und Kaufen hat eine Entsprechung in Flucht/Rückzug.

Fernsehen, Video-, Computerund Automatenspiele und auch Hypochondrie würde man am ehesten mit dem Mechanismus Erstarren/innere Emigration in Beziehung setzen.

Gemeinsames Ziel von stoffgebundenen wie stoffungebundenen Suchtformen ist also die Veränderung des Bewußtseinszustandes.

Ein veränderter Bewußtseinszustand (ASC altered state of consciousness) wurde von Tart 1972 definiert als eine qualitative Veränderung des Gesamtmusters psychischen Funktionierens, so daß das eigene Bewußtsein sich radikal von der Art unterscheidet,
wie es normalerweise funktioniert.


Stanley Krippner (1972) unterscheidet bis zu 20 verschiedene Bewußtseinszustände,
die sich vom normalen Wachbewußtsein abheben.


Roland Fischer hat ein Kontinuum der Bewußtseinszustände entwickelt:

Folgende Merkmale kennzeichnen nach Ludwig (1969) die veränderten Bewußtseinszustände:

1. Kontrollverlust;
2. Veränderungen im Denken;
3. Veränderungen der Zeitwahrnehmung;
4. Veränderung des emotionalen Ausdrucks;
5. Veränderung des eigenen Körperschemas;
6. Wahrnehmungsveränderungen;
7. Veränderungen der Bedeutsamkeit;
8. Unaussprechlichkeit;
9. Erlebnisse der Vejüngung.
Während bei von außen zugeführten Drogen (Heroin, Kokain, Mescalin etc.) die Merkmalsliste fast vollständig gültig ist, trifft für die stoffungebundenen Suchtformen (außer bei Ekstaseriten und in Extremsituationen) nur eine Auswahl von Bewußtseinsveränderungen zu.

Und auch das in Abhängigkeit von dem jeweiligen Suchtverhalten.

Das ist bei einer Freßorgie anders
als am Spieltisch,
beim gefährlichen Bergsteigen anders als in der Peep-Show
und im Kaufrausch anders als bei einem Anfall von Arbeitswut.

Auch wenn der Grad der Bewußtseinsveränderung verschieden ist, so ist das Ziel aller Suchtformen doch das gleiche: "So wie es jetzt ist, soll es nicht bleiben".

Zusammengefaßt kann man sagen, daß stoffgebundenen wie stoffungebundenen Suchtformen gemeinsam ist, daß sie in welchem Stadium auch immer ausweichendes Erleben und Verhalten sind.

In diesem Sinne ist Sucht immer Ablenkung vom Problem,
nie Hinlenkung.

Sie ist der Ausdruck einer Fixierung auf einen Nebenschauplatz.

Es stehen nie das wirkliche Problem und angemessene Lösungsversuche im Vordergrund, sondern man klebt an Unwesentlichem, an einer Nebensache eben dem Suchtmittel.

Thesen:

1. Jede Leidenschaft, im Übermaß ausgeübt, kann süchtig entgleisen.

2. Es ist nicht die Droge oder das süchtige Verhalten selbst, das den Süchtigen daran bindet, sondern die seelische, emotionale oder körperliche Wirkung, die es auf den Betreffenden hat (Erlebnis- und Bewußtseinszustand).

3. Man unterscheidet bei stoffgebundenen wie bei stoffungebundenen Suchtformen vor allem drei Wirkungsrichtungen:

a. aufputschen/erregen (zum Kampfbereit machen);
b. dämpfen/beruhigen (direkte Befriedigung);
c. erstarren/innere Emigration (wie ein Kaninchen vor der Schlange, Befriedigung der Phantasie).
Es gibt Mischformen und wechselnde Wirkungsrichtungen.

4. Ursachen für die aktuelle Suche nach stoffgebundenen wie stoffungebundenen Suchtmitteln ist die Unzufriedenheit mit der momentanen Situation oder die Unfähigkeit, angemessen damit umzugehen.

Das kann übermäßiger Streß (Dis-Streß) ebenso sein wie Langeweile und Unterforderung (Vigilanz), unlösbar erscheinende Konflikte ebenso wie Enttäuschungen, Frustrationen ebenso wie Ambivalenzen aber auch tieferliegende Konflikte aus der Lebensgeschichte oder die Frage nach dem Lebenssinn.

5. Es werden im Laufe der Lebensgeschichte Reaktionsmuster gelernt,
auf unangenehme bzw. konflikthafte Situationen mit süchtigem Verhalten zu reagieren anstatt angemessen damit umzugehen.

Das Suchtmittel, das dabei Verwendung findet, ist zunächst zweitrangig.

Man kann Sucht also als einen mißlungenen Konfliktlösungsversuch bezeichnen.

6. Ursachen für eine süchtige Entwicklung können dabei in den einzelnen Phasen
der Lebensgeschichte entstehen, abhängig allerdings von der Griffnähe des entsprechenden Suchtmittels/süchtigen Verhaltens.

die blaue Mondin - von Z. - Gesellschaftliche und soziale Fragen der Suchtkrankheit -- Ursprung und Wandel