Sie
ist, wie ich schon gesagt habe, inhuman wie die Natur. Das muss sie sein,
denn wäre sie es nicht, wäre sie geneigt, es uns leicht zu machen,
dann könnte ihr Mitleid mit uns verhindern, dass wir ein wirkliches
Leben führen. Es ist diese Stärke, inhuman zu sein, die ihr
die Kraft und Autorität gibt, unsere Grenzüberschreitungen herbeizuführen.
Es ist das Gesetz der Furie.
Dies ist ein Wesenszug, der dem Weiblichen grundsätzlich innewohnt
und der auch von großer Bedeutung ist. Wenn überhaupt, so habe
ich mich mein Leben lang vor allem vor Frauen gefürchtet. Zwar sind
auch Männerzum Fürchten, aber es ist doch eher ihre potentielle
Gewalttätigkeit oder Dummheit, die man ernst nehmen muss, zumindest
sobald und solange sie mit Macht über irgend etwas ausgestattet sind.
Darüber hinaus sind Männer eher leicht zu durchschauen und einfach
zu haben. In uns Frauen dagegen gibt es eine Fähigkeit zu gnadenloser
Härte, die beispiellos ist. Wer
den Zorn oder gar den Hass einer Frau auf sich gezogen hat, der wechsle
am besten Arbeitsplatz, Namen und Wohnort und baue sich anderswo eine
neue Existenz auf, denn auf diesen Menschen kommen fürlange Zeit
ernste, schlafraubende, fürchterliche Schwierigkeiten zu.Diese Fähigkeit
der Frauen zur konsequenten Härte macht einen großen Sinn für
unser Leben und geht weit über die für unsere Erde vergleichsweise
unbedeutende Interessenverfolgung menschlicher Belange hinaus.
Ich
habe die Bedeutung dessen in einer Geschichte gefunden, die über
Tanna, eine Berggöttin aus den Marmaròles, einem Bergzug in
den Dolomiten, erzählt wird.In dieser Geschichte wird berichtet,
wie die Croderes, die Felsensöhne in den Marmaròles, welche
weder Leid noch Liebe kannten, Tanna zur Königin über die Berge
ernannten. Doch Tanna hatte sich in die Menschen verliebt, weil es ihr
gefiel, dass sie von ihnen verehrt wurde, und darum gebot sie den brausenden
Bächen, den Steinschlägen und donnernden Lawinen nicht mehr
im Sinne der Natur, der felsgeborenen Croderes, sondern im Sinne der Menschen.
Sie glaubte nicht daran, dass die Menschen sie nur deshalb verehrten,
weil sie die Macht besaß, über die Natur zu gebieten, sondern
sie glaubte, die Menschen honorierten ihre Nettigkeit und Harmlosigkeit.
Ohne die Lawinen, die Steinschläge und mit den nun nur mehr sanft
herabrieselnden Bergbächen war alle Ordnung im Reich der Berge gestört.
Das einst so ernste und einsame Reich der Marmaròles war damit
gezähmt und wurde ein Tummelplatz der Menschen. Die
wilde Pflanzen- und Tierwelt begann unter dieser einseitigen Ungerechtigkeit
zu leiden. Am Ende kehrte sich Tannas Weichherzigkeit auch gegen die Menschen.
Der Schnee, der nicht mehr zu Tal fallen durfte, türmte sich zu Firn
und Eis und wuchs sich zu einem Gletscher aus, der die Berge langsam unter
sich begrub. Nun gab es kaum noch Weideplätze, die Menschen mussten
weiter und weiter in die Täler zurückweichen.
Plötzlich,
auf der Suche nach der Ursache, schlug ihr Verdruss in Hass um, und sie
beschuldigten Tanna, die Eishexe, wie sie sie nun nannten, den Gletscher
verzaubert zu haben, damit er Schaden über die Menschen bringe.
Auch
Tanna bekommt in dieser Sage Gelegenheit, sich auf ihre inhumane Wildheit
zu besinnen, und kehrt schließlich wieder auf die Berge der Marmaròles
zurück, wo sie seitdem im Sinne der Natur gebietet, die keine menschlichen
Interessen kennen darf, um das Gleichgewicht nicht zu stören.Tanna,
die wahrscheinlich identisch mit der etruskischen Welt-Mutter Dana ist,
war nicht die einzige Göttin, die in den alten Zeiten merkwürdigerweise
versucht hat, sich kleiner zu machen, um vielleicht dem Ernst ihrer Aufgabe
zu entgehen.
Es
ist die kleine Mutter, die zu kleine Mutter, die ihren Sohn zu sehr liebt,
als dass sie es ertragen könnte, ihn zu den Männern zu schicken,
wo er lernen könnte, wer er ist, auch wenn es wehtut und seine Schrecken
birgt. Und so kauft sie ihm eine hübsche Jacke, verpasst ihm einen
netten Haarschnitt und macht einen kleinen Kavalier aus ihm. Später
greift dieser nette kleine Kavalier dann vielleicht zum Mitteln, die uns
allen das Blut in den Adern gefrieren lässt, um sich der Übermacht
unausgelebter Weiblichkeit um ihn herum zu erwehren.
Die zu kleine Mutter ist es auch, der das Herz abstirbt vor lauter Angst
davor, was die Welt ihren kleinen Töchtern antun könnte. Und
so sperrt sie sie ein und erzählt ihnen schwarze Geschichten über
die Gefahren, die auf eine vorwitzige Frau lauern, wenn sie sich unter
dem freien Himmel bewegen will, bis die Angst die Töchter dazu gebracht
hat, nie mehr fortgehen zu wollen, schon gar nicht dorthin, wo der Himmel
noch frei ist.
Es
ist die wilde Frau, die ihr helfen kann, eine Große Mutter zu werden,
indem sie ihr beizeiten in die Herzlosigkeit hilft, bis sie eine echte
Rabenmutter geworden ist. Sie ist es auch, die den Töchtern zeigt,
wie man sich die Welt zu eigen macht und sie mit Macht erlebt.
Dies
ist sicherlich der bedeutendste Aspekt der wilden Frau, und wir müssen
uns dazu durchringen, ihn in uns wieder lebendig werden zu lassen.
Auch
dann, wenn wir befürchten, nicht mehr geliebt zu werden, und die
Einsamkeit einer solchen Haltung seine Schrecken für uns birgt. Es
ist der bedeutendste Aspekt der wilden Frau, jedoch nicht ihr einziger.
Das Wilde, das Ungezähmte kommt stets in zahlreicher und vielfältiger
Gestalt daher, wenn es weiblich ist.
*aus "Die wilde Frau", Angelika Aliti
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