Das sind die »süßen« Geheimnisse.

Informationen, die indessen aus Scham und Angst geheimgehalten werden, sind wie das berüchtigte mythologische »Natterngezücht«, das sich in Form von Selbstbezichtigungen und Selbstquälerei ausbreitet. Man muß sich klarmachen, daß alle Qualen, die der Frau womöglich angedroht wurden, sollte sie das Geheimnis preisgeben, die Frau jetzt von innen attackieren, also weder so noch so vermieden werden können. Scham und Gewissensbisse entladen sich in nächtlichen Träumen, wenn sie keinen anderen Weg finden. Bezeichnend und weit verbreitet sind Träume, in denen Lichter aller Art fortwährend an und ausgehen oder erlöschen; Träume, in denen etwas Ungenießbares gegessen wird, woraufhin es der Träumerin übel wird: Träume, in denen man einer Gefahr nicht entrinnen kann, und Träume, in denen man schreien will, aber feststellt, daß kein Laut der Kehle entweicht.

Dazu fällt mir die Geschichte einer Patientin ein, deren Lebenslauf den Gesamtkomplex der unseligen Geheimhaltung illustriert. Ihr Mann hatte in den fünfziger Jahren, drei Monate nach der Heirat, Selbstmord begangen, worauf die Frau von der Familie des Mannes bedrängt wurde, über seine langjährigen Depressionen Stillschweigen zu bewahren, und auch ihre Trauer, ihr Entsetzen und den Zorn über das kulturelle Stigma auf keinen Fall »an die große Glocke zu hängen«.

Sie fügte sich dem Drängen und verbannte sämtliche Gefühle über das Ereignis in den Todesstreifen, der nun in ihrer Psyche entstand. Sie versuchte, so gut es ging, allein mit dem Schicksalsschlag fertig zu werden. Am Todestag ihres Ehemannes hüllte sich seine Familie Jahr für Jahr in tödliches Schweigen. Niemand rief an, um zu fragen: »Wie fühlst du dich? Möchtest du Gesellschaft haben? Vermißt du deinen Mann? Sollen wir mit dir auf den Friedhof gehen und Blumen auf sein Grab legen?«

Die Frau schluckte ihren Schmerz und Zorn über die Grausamkeit dieser Verwandtschaft jahrein, jahraus hinunter und ließ ebenfalls nichts von sich hören. Sämtliche Familienfeste, Geburtstage, unteranderem der eigene, wurden fortan gemieden, und schließlich ging die Frau sogar den eigenen Freunden aus dem Weg, denn für sie war jede Frage nach ihrem Wohlbefinden zu einer entsetzlichen, leeren Geste geworden, nachdem niemand sich in den Zeiten der äußersten Verzweiflung um sie gekümmert hatte.

Auf Einladungen reagierte sie mit einem kalten: »Für mich ist so was reine Zeitverschwendung«.

Es ist tatsächlich so, daß wir die Mitmenschen in genau dem Bereich verletzen, in dem wir selbst verwundet worden sind. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, muß man einem vertrauenswürdigen Menschen erzählen, was passiert ist, und zwar so oft und detailliert wie notwendig, um sich spürbare Erleichterung zu verschaffen.

Schwerwiegende Lasten kann man einfach nicht loswerden, wenn die Reaktion des Gegenübers ein unbeeindrucktes »Ah ja? Hmmm, das tut mir aber leid«, ist.

Weder der Erzähler noch der Zuhörer können sich weise Sprüche erlauben wie »Ja ja, das Leben ist hart«, und dergleichen. Die Sache darf nicht noch einmal abgetan und leichtfertig übergangen werden. Das ist tödlich - man erinnere sich an den Todesstreifen.

Wohl dem, der ein mitfühlendes Herz findet, das mit gebanntem Interesse lauscht, das an manchen Stellen zusammen zuckt, sich selbst kurz von den Schmerzen berühren läßt, ohne unter der Bürde zusammenzubrechen und dann selbst um Hilfe zu rufen. Durch selbstloses, aber aktiv mitfühlendes Zuhören wird die Erfahrung gemacht, daß man nicht allein mit allem fertig werden muß.

Aus diesem Grund veranstalte ich manchmal kleine Frauengruppen und fordere die Frauen auf, Waschkörbe voller Fotos und Krimskrams aus alten Zeiten mitzubringen und ihre »schmutzige Wäsche« im Beisein der anderen aus dem Korb zu holen, zu lüften und in alle Winde zu verstreuen.

Ironischerweise verstößt man in unserer Kultur gegen die guten Sitten, wenn man die schmutzige Wäsche der Familie in aller Öffentlichkeit wäscht - das gehört sich nicht!

Die Ironie dabei ist, daß besagte Wäsche aber auch nie im Schoße der Familie gewaschen wird. Gewöhnlich liegt sie jahrzehntelang schmutzstarrend in einer Ecke des Waschkellers.
Der Anspruch auf Geheimhaltung ist in diesem Fall Gift, weil er verlangt, daß man auf ewig ein schmutziges Geheimnis, das einen quält, ohne jede Unterstützung mit sich herumschleppt.

Viele Frauen spüren instinktiv, daß sie bestimmte Dinge weder ihren Familien noch den Freunden anvertrauen können, weil sie ihnen damit zumuten, wenigstens einen Teil des Horrors nachzuempfinden.

Sie haben die Erfahrung gemacht, daß ihnen entweder nicht geglaubt oder daß ein unbequemes Thema in Windeseile vom Tisch gefegt wird. »Oh je ...« heißt es dann, und diesem oder einem ähnlichen Ausruf folgt ein betretenes Schweigen, das der Frau zu verstehen gibt, daß der Ofen der Bereitwilligkeit an diesem Punkt bereits erloschen ist. Oder es heißt: »Na ja, das ist natürlich schrecklich, aber nun müssen wir uns auf positive Dinge konzentrieren«.

Jeder, der von dem symbolhaften Mord an der Frau mit dem Goldhaar unterrichtet wird, fühlt sich unterschwellig gezwungen, ein paar Tränen an ihrem Grab zu vergießen, und dazu sind viele aus verständlichen Gründen nicht bereit. Dennoch wird das Versagen der Angehörigen und Freunde als ein weiterer Betrug empfunden. Es fühlt sich an, als wäre man um den rechtmäßigen Beistand betrogen worden, der instinktiv mit Familienzugehörigkeit und Freundschaft verbunden wird.

Bevor das Ganze bis ins Unerträgliche auswuchert, nimmt man sich lieber ein Notizbuch und schreibt alles haargenau auf, oder man sucht einen professionellen Therapeuten auf, der weiß, wie man mit Scham, Schande und dem Zorn über den vorenthaltenen Beistand umgehen muß.

Macht es wie die Schafhirten im Märchen:

Flötet eure Schandtaten und unseligen Geheimnisse einem geneigten Publikum ins Ohr, damit die Mördergrube in gemeinsamer Arbeit geöffnet und der Mord endlich öffentlich betrauert werden kann.

Durch Trauerarbeit wird der Geist der Frau mit dem Goldhaar von ihrer zwanghaften Beschäftigung mit dem Geheimnis erlöst. Das Grab wird wieder zugeschaufelt, und danach bleibt nur noch eine Narbe zurück, wobei man wissen muß, daß psychische Narben ebenso »wetterempfindlich« sind wie körperliche.


Von Zeit zu Zeit mucken sie auf, allen Aussagen der klassischen Psychologie zum Trotz, die jahrelang behauptet hat, daß Trauerarbeit in ein, zwei Jahren abgeschlossen ist, wenn man es richtig macht, und wenn nicht, dann hat man es mit anderweitigen Neurosen zu tun.

Heute wissen selbst die Akademiker, was der normale Mensch schon seit Jahrtausenden instinktiv weiß: Die Trauer über bestimmte Verluste wird nie vollkommen überwunden, wobei die Trauer über den Verlust eines Kindes mit den nachhaltigsten Schmerzen verbunden ist, aus neueren Studien geht hervor, daß der akute Seelenschmerz innerhalb von ein, zwei Jahren abklingt und, falls das Auffangnetz der Leidtragenden einigermaßen intakt ist, überwunden wird, aber in den Jahren darauf wird jeder Leidtragende noch hin und wieder von Erinnerungen heimgesucht, die den alten Schmerz vorübergehend wieder aktivieren.

Die Abstände werden mit der Zeit immer größer, die Dauer der Schmerzempfindung wird immer geringer, aber die Intensität bleibt weiterhin annähernd gleich. Es ist also völlig normal, wenn der Schmerz und die Trauer über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder aufwallen.

Tatsache aber ist, daß geteiltes Leid sich weitaus rascher verflüchtigt als das nicht weniger intensive Leid über unselige Schandflecken, die weiterhin im Todesstreifen auf Erlösung harren.

Mitteilen bedeutet, das Leid in zwei zu teilen, auf wenigstens zwei Personen zu verteilen.
So werden die Qualen der Bitterkeit und Isolation in lösende Tränen verwandelt.
Man geht mit einer Narbe oder auch vielen Narben, aber erleichtert und gestärkt aus diesem Heilprozeß hervor.