Hinter der Maske

Von Luisa Francia

Frau sein - nicht einfach.

Hinter der weiblichen Maske ist es einfach, ein Mensch zu sein.

Wie oft habe ich schon versucht, mich jenseits des Klischees "Frau" zu sehen, zu definieren.
Ich stelle mich vor den Spiegel und frage mich: Was siehst du? Ich sehe dann, je nach Verfassung ein bleiches oder leicht gebräuntes Gesicht, struppige Haare, die Augen sind je nach Sonnenlage braun (im Winter) oder gelb (in der Sonne). Ich denke daran, dass kaum ein Mann jemals in den Spiegel schaut und sich fragt, ob er sich schminken sollte. So wie auch kaum ein Mann jemals nachts wach liegt und Angst vor einer Vergewaltigung hat. Als mein letzter Liebhaber, ein Engländer, über meine Beine strich, sagte ich schon fast automatisch: "I don't shave my legs." (Ich rasier mir die Beine nicht.) Er darauf: "Neither do I." (Ich auch nicht.) Eben.

Wenn ich meinen Körper betrachte, denke ich an die Fremdeinwirkungen, die im Lauf der Zeit darüber gewandert sind. Sexuelle Übergriffe, von meinem Vater, von Arbeitgebern, und auch solche, wo ich zu schüchtern war, um einem von Testosteron gejagten Freund eine Grenze zu setzen. Meine Jugend war - wie die von allen meinen Freundinnen - von dem Gedanken beherrscht: Egal wie traumtänzerisch und verrückt du sein magst, du musst irgendwie einen Mann angeln, denn ohne bist du nichts.

Nichts ist immerhin der Anfang von allem, sagen die Buddhisten.
Es dauerte nicht besonders lange, bis ich das begriff.

Einmal musste der Blinddarm raus, am rechten Oberschenkel gibt's eine Narbe von einer Knochenmarkentzündung in der Kindheit, das alles ist optisch unproblematisch. Die lange Narbe am linken Oberschenkel ist schon etwas hässlicher. Aber dass ich überhaupt über die Optik nachdenke, macht mich schon zur "Frau", denn während Narben einen Mann ja zu adeln scheinen, machen sie die Frau zur Ware mit Mängeln. Wie ich auf den Begriff Ware komme? Neulich sagte eine Frau zu mir, sie habe ein Problem mit dem Älterwerden, weil sie jetzt "vom Markt" sei.
Das klang nach Salat. "Drück mich erst, wenn ich dir gehör" stand auf einem Salatstand auf dem Münchner Viktualienmarkt.

Sind Frauen so blöd, dass sie jedes Klischee erfüllen, und es nicht schaffen, jenseits der Masken und Erwartungen eine eigene Identität aufzuweisen? An dieser Stelle meiner Überlegungen bekomme ich immer so ein leichtes saures Aufstossen aus dem Magen, das einhergeht mit Adrenalinschüben und dem Festzurren der Kiefermuskeln. Wenn ich's bemerke, sage ich mir, entspanne dich, du musst die Probleme des Frauseins nicht sofort und für immer lösen. Was in Tausenden von Jahren durch viele Einflüsse gewachsen ist, kannst du nicht in dreissig Jahren lösen und vielleicht noch allein.

Ich kann mich nicht individuell als Frau oder als Mensch definieren, ohne mich in Zusammenhang mit dem Umfeld zu sehen, in dem ich lebe, von dem ich mich nähre, das mich natürlich auch trägt. Denn ganz allein, das habe ich in der Wüste begriffen, bin ich nicht lebensfähig, so gern ich allein bin und so wertvoll die Erfahrung für die Erweiterung meiner Selbstwahrnehmung ist.

Dieses Umfeld ist geprägt von einem Phänomen, das mir nach mehr als dreissigjähriger Arbeit mit Frauen restlos klar wurde, ich nenne es das Entführungs-Syndrom. Wenn Menschen entführt werden, beginnen sie nach einer Weile, sich mit den Entführern zu identifizieren, weil diese die Stärkeren sind und weil es fast unmöglich ist, sich in der Gewalt von Stärkeren zu befinden und dagegen einen dauerhaften Widerstand aus einer vollkommen machtlosen und rechtlosen Situation aufzubauen. Viele weibliche Entführungsopfer verlieben sich in ihre Entführer und machen mit ihnen gemeinsame Sache (Patricia Hearst zum Beispiel).

Vieles spricht dafür, dass die Situation von Frauen der von Entführungsopfern ähnelt, und es hilft nicht viel, sich immer wieder zu ermahnen, die Klischees des Frauenbildes zu durchbrechen. Wir leben nicht losgelöst von geschlechtsdefinierten Zusammenhängen, täglich werden wir daran erinnert. Ich hatte mir ein Haus auf Lanzarote gemietet und verbrachte dort allein eine Art Traumzeit. Ich ass und schlief, wie ich Lust hatte, sprach tagelang mit niemandem, zog nachts los in die Lavafelder, schwamm früh am morgen nackt im Meer. Ich fühlte mich vollkommen glückselig. Nichts trübte meine Freude.

Dann klopfte es eines Nachts ans Fenster. Ich war noch auf, las in Diane di Primas Autobiografie. Ich öffnete das Fenster. Draussen stand ein österreichischer Freund der Besitzerin, der glaubte, sie sei im Haus. Ich gab ihm ihre neue Nummer, schloss das Fenster, und für mich war damit die Sache erledigt. Für ihn nicht.

Am nächsten Abend klopfte es wieder. Wir tranken einen Wein zusammen. Er war wirklich ganz nett. Aber er verstand überhaupt nicht, dass ich allein sein will, dass ich gern allein bin. Eine Frau braucht doch einen Mann. Auf jeden Fall freut sie sich über den Glücksfall, dass freiwillig einer daherkommt. Am nächsten Abend klopfte er sogar ans Fenster, obwohl das Haus dunkel war. Ich kam gerade von einem meiner nächtlichen Streifzüge zum Vulkan zurück und hatte keine Lust, mit ihm zu reden. Ich wartete, bis er wieder weg war. Männer können eigenbrötlerisch sein, mit niemandem reden, tage- und wochenlang allein irgendwo hausen, so sind halt Männer. Wenn eine einigermassen attraktive Frau das macht, kommt sicher gleich ein Mann mit der Haltung an: Wenn ich dich schon nicht befruchten kann, dann will ich dich wenigstens zulabern, mir ist so langweilig.

Frauen haben oft kalte Füsse und kalte Hände. Und Männer erwähnen das gern kritisch. Kalte Extremitäten sind ein Zeichen für einen Schockzustand. Ich finde es bemerkenswert, dass mehr als die Hälfte aller Frauen ständig unter Schock steht, aber erstaunlich finde ich es nicht. Das Entführungssyndrom entfremdet die Opfer von ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Tag und Nacht muss die Sehnsucht nach Freiheit kontrolliert werden. Sie darf nicht nach aussen dringen, weil sonst Strafmassnahmen drohen.

Ich habe immer warme Hände und Füsse. Wie kommt's? Ich habe mir mein Leben so eingerichtet, dass ich meine Lebenslust wecken, meine Freude nähren, meine Stille bewahren kann. Und in dieser Stille mit der Natur kann ich auch das Klischee endlich fallen lassen. Ich bin einfach Teil der Natur. Je stiller ich werde, umso mehr kommt mir die Natur entgegen, ihre feinen Impulse sickern in meine Haut ein. Ich höre auf, Individuum, gesellschaftliches, soziales Wesen zu sein. Ich bin einfach da.

Und hinter dem Spiegel ist - nichts.

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